2005 hat die Hamburgische Bürgerschaft ein Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen verabschiedet, das alle auch behördlichen Einrichtungen verpflichtet, Regelungen darauf zu prüfen, ob den Belangen behinderter Menschen im Sinne des Grundgesetzes, im Sinne der Ausführungen von SGB IX und SGB VIII angemessen Rechnung getragen wird.
Die hier vorliegende Richtlinie ist wiederum ein „pädagogischer“ Ansatz, sich mit den Lernentwicklungsverzögerungen und -störungen von Schulkindern auseinander zu setzen, ohne dass den Ausprägungsgraden einer Entwicklungsbehinderung beim Lesen, Rechtschreiben und Rechnen lernen angemessen Rech-nung getragen wird.
Angemessen soll hier auch meinen, dass einem Schüler und einer Schülerin zu jedem Zeitpunkt der Schulzeit die Möglichkeit gegeben sein muss - nach Prüfung im Einzelfall - Fördermöglichkeiten und Nachteilsausgleich und/oder Notenverzicht zu erhalten.
Der Landesverband Legasthenie und die Elternkammer Hamburg haben im Juli und August nach gemeinsamen Arbeitssitzungen aufgrund ihrer Kritik an den Entwürfen der Richtlinie zwei eigene Richtlinien entworfen.
In ihrer Stellungnahme vom 26.09.06 weist die Elternkammer Hamburg den vorliegenden Entwurf zurück, da „die Chancengleichheit verletzt wird und insbesondere nachfolgende Unverhältnismäßigkeiten entstehen:
- eine Abweichung in der Leistungserhebung und –bewertung bzw. die Gewährung eines Nachteilsausgleichs ist grundsätzlich /.../ an die Bewilligung einer Fördermaßnahme gekoppelt,
- das Kriterium „Prozentrang 5 und kleiner“ spiegelt extrem schwache Leistungen wider und ist damit für die Gewährung einer AUL bzw. einer Fördermaßnahme nach dem Sprachförderkonzept sowie der daraus folgenden Gewährung von Abweichungen in der Leistungserhebung /.../ zu niedrig angesetzt,
- es entstehen Ungerechtigkeiten, wenn SchülerInnen mit gleichen Testergebnissen (im Lesen, Rechtschreiben zwischen Prozentrang 5 und 10, im Rechnen bis Prozentrang unter 15) unterschiedlich in der Gewährung eines Nachteilsausgleichs und der Berücksichtigung bei der Leistungsbewertung behandelt werden /.../.
- grundsätzlich werden alle SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf von der Gewährung einer AUL ausgeschlossen, ohne im Einzelfall zu prüfen, ob z.B. die schulischen Maßnahmen bzw. Maßnahmen nach dem Sprachförderkonzept ausreichen,
- grundsätzlich werden auch die Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die nach den Bildungsplänen der Regelschulen unterrichtet werden, von einer Abweichung in der Leistungserhebung und –bewertung aus-geschlosssen.
- grundsätzlich ist die Bewilligung einer AUL für alle SchülerInnen nichtdeutscher Herkunftssprache ausgeschlossen, ohne im Einzelfall zu prüfen, ob die Ressourcen der jeweiligen Schule aus dem Sprachförderkonzept für additive Maßnahmen ausreichen bzw. die jeweilige Schule ein angemessenes Konzept vorhält /.../.
Diese und weitere Kritikpunkte wurden von der Elternkammer angeführt.
Gravierend ist, dass die Gruppe der Schüler und Schülerinnen nichtdeutscher Herkunftssprache auch bei extrem schwachen Leistungen in der sprachlichen Bewältigung des Deutschen von einer individuellen Berücksichtigung mit Nachteilsausgleich und Notenschutz ausgeschlossen bleibt.
Der schulische Gesetzgeber verkennt, dass anhaltende sprachliche Schwierigkeiten zweisprachiger Schüler keinesfalls allein auf ein mangelndes Angebot in deutscher Sprache zurückgeführt werden können, sondern spät einsetzender, verzögerter Zweitspracherwerb einen langanhaltenden, z.T. schwierigen Erwerbsprozess in der gesprochenen und schriebenen Sprache nach sich zieht.
Desweiteren kann ein erschwerter phonetisch-phonologischer Lernprozess beim Erwerb der Schriftsprache unabhängig von erschwerten Lernprozessen des Zweitspracherwerbs auftreten.
Die Elternkammer kritisiert des weiteren:
„grundsätzlich werden alle SchülerInnen, die seelisch behindert sind oder von einer seelischen Behinderung bedroht sind, von der Gewährung einer AUL ausgeschlossen, ohne im Einzelfall zu prüfen, ob die schulischen Maßnahmen bzw. Maßnahmen nach der Eingliederungshilfe § 35 a SGB VIII (i.d.R. Psychotherapien) ausreichen, um den SchülerInnen schulisch weiterzuhelfen.“
Liegen bei einem solchen Kind die Testergebnisse der Schule unterhalb von PR 5 (Lesen, Schreiben oder Rechnen), fällt es natürlich unter die Kriterien der Richtlinie und hat Anspruch auf Förderung und Nachteilsausgleich/Notenschutz. Die Sachlage ist mit dem Fachreferenten abzuklären.
Nicht jedoch aufgrund der ärztlich attestierten (drohenden) seelischen Behinderung und nicht bei Prozentrang-Ergebnissen oberhalb von PR 5!
Die Richtlinie sagt nichts darüber aus, wie mit einer „(drohenden) seelischen Behinderung“ umzugehen ist.
Die Kritik der Elternkammer nimmt Bezug auf weitere durch diese Richtlinie vernachlässigte Schülerpopulationen:
- „grundsätzlich werden alle SchülerInnen von Beruflichen Schulen von der Gewährung einer AUL/oder der Berücksichtigung in der Leistungsbewertung ausgeschlossen, /.../“,
- „grundsätzlich werden alle Schülerinnen einer Beruflichen Schule während der Dauer des Berufsschulunterrichts von der Gewährung eines Nachteilsausgleichs ausgeschlossen, obwohl Handelskammer, Handwerkskammer Nachteilsausgleich gewähren (auch Universitäten gewähren /.../Nacheilsausgleiche /.../).“
Die Elternkammer fordert „eine verdeutlichende Handreichung für Schule, Lehrerinnen und Eltern /.../, um Möglichkeiten der Förderung, des Nachteilsausgleichs und Berücksichtigung in der Leistungsbewertung kompakt und übersichtlich aufzuzeigen.
Hamburg hat mit dieser Richtlinie den Versuch gestartet, den Empfehlungen der KMK aus Dezember 2003 nachzukommen.
Seit seiner Gründung im Jahre 1984 führte der LVL-Hamburg mit nahezu allen Schulsenatoren und –senatorinnen Gespräche über die Berücksichtigung von Legasthenie und Dyskalkulie; es fanden mehrfach jährlich Gespräche mit den zuständigen Fachreferenten statt.
Am 12.09.2005 fand im Uniklinikum unter der Moderation von Professor Schulte-Markwort eine gemeinsame Veranstaltung mit dem Verein Huckepack e.V. statt, bei der es um die Frage ging: „Wie nötig ist ein Legasthenieerlass auch in Hamburg?“. Die Referenten aus den umliegenden Ländern wie Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein waren übereinstimmend für eine gesetzliche Regelung .
Schließlich engagierte sich die Elternkammer Hamburg, und nach einem Vortrag, den wir dort am 27.06.2006 hielten, kam es zu gemeinsamen Gesprächen und Arbeitssitzungen, vor allem mit dem Vorsitzenden Herrn Gisch und Birgit Dähn.
Änderungen in den Entwürfen der hier vorliegenden Richtlinie sind, so der Fachreferent Volkmar Malitzky am 24.10.2006 in einem Gespräch, auch aufgrund der Kritik durch Lan-desverband und Elternkammer erfolgt.
Wie unsere Arbeitssitzungen zeigten, braucht Hamburg „mehr“ als eine Umsetzung der Empfehlungen der KMK für Kinder mit beson-deren Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben, einmal davon abgesehen, dass schwache Rechenleistungen dort nicht behandelt wurden.